Hermine Orians Leben ist ein Stück gelebte Südtiroler Geschichte

Frau Hermine gehört zu unserer Familie, Sie ist die Schwiegermutter meiner Schwägerin.

„Ich habe so viele Blumen bekommen und so viele Leute sind gekommen!“ Hermine Orian wundert sich immer noch, wie zahlreich ihr von den Leuten zu ihrem Geburtstag gratuliert wurde. Nun sind aber hundert Jahre ganz gewiss ein Grund für die Dorfgemeinschaft, die Lehrerin gebührend zu feiern.

 

Hermines Leben ist ein Stück gelebte Südtiroler Geschichte: Die dunklen Jahre des Faschismus, der Zweite Weltkrieg, die schwierigen Neuanfänge, der wirtschaftliche Aufstieg. Zum äußeren Geschehen kamen persönliche Schicksale. Hermine wurde als erstes von sechs Kindern in Kurtatsch geboren. Als Älteste musste sie der Mutter zur Hand gehen, vor allem aber auf die kleineren Geschwister.

Als Hermine Orian am 23. April 1919 geboren wurde, war der Erste Weltkrieg seit einem guten halben Jahr gerade erst vorbei. Ihr Heimatort Kurtatsch war, wie ganz Südtirol, italienisch besetzt. Aus der Besetzung wurden Annexion und Italianisierung. Diese bestimmte ihr Leben als Kind und junge Frau. Übermächtig sind die Erinnerungen daran für die rüstige Hundertjährige. 

Dann war da die Arbeit in den Weinäckern. „Hab mit der Mama immer gesungen beim Rebenbinden!“, sie hat die Zugochsen meinen (führen) müssen, hinunter und herauf von den Mösern, wo die Türgg (Mais) Äcker waren. Sie hat noch das Glück, drei Jahre deutschen Kindergarten bei strengen Klosterfrauen zu besuchen. Dann aber kam die italienische Volkschule: „Anfangs haben wir gar nichts verstanden!“ Deutsch zu sprechen ist verboten in der Schule. Die Folge: Die Kinder lernen weder das Italienische richtig und Deutsch überhaupt nicht. Ein kleiner Ausweg ist die Katakombenschule, geheimer Deutschunterricht, den Hermine „heimlich mit zehn Jahren besucht. Angst vor den Carabinieri? „Die waren zu bequem, groß auf Suche zu gehen, die haben den ganzen Tag nur zum Fenster hinausgeschaut.“ Hermine lernt so gut und schnell, dass die Lehrerin sie nach drei Jahren fragt, ob sie nicht selbst unterrichten möchte. So kam es, dass Hermine im stolzen Alter von dreizehn Jahren selbst heimliche Lehrerin wurde. Die Mutter hat dann, während Hermine Unterricht hielt, draußen auf der Straße am Waschtrog die Wäsche gewaschen. „Aber die Carabinieri, alles Süditaliener, sind nie gekommen, die waren schlecht zu Fuß“ – und Frau Hermine lacht.

Auf den Berg hinauf getrauten sie sich nicht und das wussten die jungen Leute im Dorf. Ein paar Mal im Sommer zogen sie in kleinen Grüppchen hinauf auf den Fennberg, die von den Müttern genähten Dirndl und weiche Schuhe im Rucksack, den die Burschen – noch alte Kavaliersschule – für die Mädchen trugen. Die Burschen hatten ihre Lederhose und ein weißes Hemd bei sich. Mit von der Partie war ein junger Ziachorglspieler (Ziehharmonika). Das Gesicht der Hundertjährigen strahlt, während sie vergilbte Bilder zeigt vom Volkstanz auf der Wiese oben auf dem Fennberg: „Ist wunderschön gewesen damals!

“Dann aber zogen sich dunkle Wolken über Kurtatsch und ganz Südtirol zusammen: Im unseligen Abkommen zwischen Hitler und Mussolini mussten die Südtiroler/innen sich entscheiden, entweder die Heimat zu verlassen oder zu bleiben und vollkommen italiani-siert zu werden. Ein Riss ging durch die Südtiroler bis hinein in die Familien. Für die schulpflichtigen Kinder der Deutsch-Optanten gab es jetzt Unterricht in deutscher Muttersprache.

Hermine wächst nun ganz offziell in die Rolle als Lehrerin hinein. Und sie tut noch mehr: Sie gibt den jungen Burschen, die zur Wehrmacht einrücken müssen, elementaren Rechtschreibunterricht, damit sie von der Front wenigstens einigermaßen verständlich nach Hause schreiben können. Daraus entwickeln sich Briefkontakte. Aus so einem Kontakt entstand die „Briefliebe“ zu ihrem Alfons, ihrem späteren Mann, der erst anderthalb Jahre nach Kriegsende heimkommt.

Überall in der Verwaltung fehlen Fachkräfte, Alfons besucht mit Erfolg einen Schnellkursus für den Posten als Gemeindesekretär. Mehrere Stellen stehen zur Auswahl, Alfons entscheidet sich für Schenna. Hermine folgt ihm. „Die Wohnverhältnisse waren anfangs katastrophal!“, erinnert sich Hermine, Schenna war ein Bauerndorf, „und die Leute schon a pissl, ja, komisch halt“. Heimweh gehabt nach Kurtatsch? „A pissl Heimweh hat man immer!“ Unter großen Anstrengungen bauen sie sich ihr Häuschen an der Hauptstraße, vermieten ein paar Betten. Wie einen Schatz hütet Hermine die Gästebücher mit den begeisterten Eintragungen, Zeichnungen sind darunter und Unterschriften honoriger Gäste.

Hermine gibt den Lehrberuf auf, um sich der Erziehung ihrer Kinder und später der Betreuung der Gäste zu widmen. Ist ihr sicher nicht leicht gefallen, der Abschied von der Schule: „Kinder hab ich immer gern gehabt!“

Ein großer Schicksalsschlag ist der frühe Tod eines ihrer Söhne, der an einer verschleppten Verletzung durch das Fallschirmspringen stirbt. Nicht minder schwer trifft sie der Herztod ihres geliebten Alfons. „Eigentlich habe ich genug gelebt und ich habe nur einen Wunsch: Schnell zu sterben!“ Aber wenn sie wieder aufwacht am Morgen, „danke ich Gott für den Tag. Und bin glücklich, dass ich bei mir daheim bin!“ Wir wünschen der Hermine noch viele Morgen dankbaren Aufwachens.

 

Beitrag aus dem neuen Schenna Magazine 2020

Text: Sebastian Marseiler

Foto: Julia Staschitz

 

Tags: 2020

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